Luftiger Marmor, wässriger Dolomit, wolkiger Diabas – Heinrich Meyers Skulpturen der letzten Jahre formulieren in den von ihm gewählten Titeln unerwartete Verbindungen des Gegensätzlichen. Jede Namensgebung ein Oxymoron, das in jedem von ihm bearbeiteten Stein anschauliche Gestalt gewinnt. Die Skulpturen vereinen diese Polaritäten auf überzeugende Weise: die Härte des Steins verwandelt sich in weich wogende Wellen, die extreme Dichte des Materials in wolkige, fast immateriell wirkende Texturen im weißen Marmor und die steinerne Schwere in leichte Brisen. Die materielle Begrenztheit des Steins weitet sich zur scheinbar grenzenlosen Ausdehnung des Meeres, oder es wird die Verankerung des Steins durch seine Schwere und Festigkeit im nahen Hier und Jetzt transzendiert in die Ferne desHorizontes oder gar in die kosmische Dimension von Mond und Sonne.
Die Figur des Oxymorons, die in der Rhetorik die sinnreiche Verbindung zweier sich widersprechender Eigenschaften wie ein ‚beredtes Schweigen’ oder ein ‚süßsaures Lächeln’ bezeichnet, erzeugt der Bildhauer durch seine formgebende Bearbeitung des Materials, wobei im Resultat sowohl die ursprünglichen materiellen Eigenschaften des Steins wie Härte, Schwere, Undurchdringlichkeit und Dichte sichtbar und fühlbar bleiben, als auch die Umformung des Rohlings in geradezu entgegengesetzte Qualitäten, wie wir sie mit der Luft, der Welle, dem Wind, der Wolke oder dem Meer verbinden.
Die nicht alleine, aber insbesondere die Bildhauerei und Architektur seit Alters her umtreibende Frage nach dem Verhältnis von Material und Form erhält in Heinrich Meyers Skulpturen eine neue, zugespitzte Wendung. Denn er bedient sich nicht mehr des allegorischen Verfahrens wie z.B. Maillol, der das Mittelmeer in Gestalt einer fülligen, nackten Frauengestalt veranschaulicht, die Fülle und Wärme der mediterranen Natur verkörpert. Vielmehr versucht er Maillol’s Übertragung des plastisch unfassbaren Meeres in die materiell fassbare Figur der Frau zu umgehen und die Vorstellung des Meeres an sich direkt in der Form des bearbeiteten Stein zu evozieren; wie beim Meer so auch bei den Skulpturen, die Titel wie Brandung, Luft, Brise, Transatlantik, Wüste, Feuer, Nacht, Mond, Welle, Schauer, Luftschloss oder Wesen tragen.
Heinrich Meyer beruft sich bei diesen Versuchen, den Steinen ein Äußerstes an sichtbaren und fühlbaren Qualitäten abzuverlangen, die zu dem Steinernen in Gegensatz stehen, auf Autoritäten unter seinen Vorgängern. So auf den japanisch-amerikanischen Bildhauer Isamu Noguchi, dessen Credo lautete: „Es ist meine Aufgabe, Steine zu erklären, die Absicht ihres Daseins sichtbazu machen“; oder auf dessen Lehrer Constantin Brancusi, der schrieb: „Bei wirklicher Auseinandersetzung mit dem Material hört es auf, Material zu sein.“ Meyers Verständnis als Bildhauer zu dem Verhältnis von Form-gedanke und vorgegebenem Material knüpft an dieses Selbstverständnis der Bildhauer an: „Es ist erst einmal der Stein, der das Vorgehen diktiert. Der Stein wird keiner Thematik unterworfen…Masse, Kraft und Gefüge definieren den Rohling. Sie sind der Ausgangspunkt, um die Gestalt des Steins ans Licht zu holen. Obwohl man stets etwas vom Block entfernt, vermindert man nicht, sondern fügt hinzu – das Wesentliche, die Dominante“.
Hier ist immer noch die alte platonische Vorstellung am Werk, der Bildhauer haue vom Stein nur weg, was gleichsam die im Rohling schon Natur aus vorhandene Figur verdeckt. Der Bildhauer bringe in seinem Prozess der Bearbeitung den ausgewählten Stein, der die endgültige Figur schon in sich trägt – auch wenn sie dem gewöhnlichen Auge nicht sichtbar ist, sondern nur dem geschulten oder begnadeten des Künstlers – zu sich selbst, befreie ihn von allem Überflüssigen, was sein inneres bildhaftes Wesen verdeckt hat.
Um nicht noch einmal diesen, seit Platon und Aristoteles, von Philosophen und Künstlern geführten Disput über das Verhältnis von Form und Technik auf der einen und dem Material auf der anderen Seite, aufnehmen zu müssen, schlage ich einen anderen Weg vor, um sich der Figur des Oxymoron in den Skulpturen von Heinrich Meyer zu nähern. Denn die alte Streitfrage, ob die Bildhauer ihrem Material eine Form aufzwingen oder diese aus dem verwendeten Material heraussehen und herauslösen, bleibt in der traditionellen, für die Kunst letztlich unfruchtbaren Auffassung von Gestalt und Ausdruck der dinglich materiellen Welt befangen, die es zu überwinden gilt.
Ich knüpfe hierfür an die Überlegungen von Gernot Böhme zum Entwurf einer ‚neuen Ästhetik’ an, der er den Begriff der Atmosphäre zugrunde legt. Denn die Skulpturen von Heinrich Meyer lassen sich meiner Meinung nach als exemplarische, wenn auch unbewusste Versuche deuten, die atmosphärischen Qualitäten der Dinge, wie Böhme sie versteht, zur Anschauung und zum Bewusstsein zu bringen.
„In der klassischen Dingontologie“ – schreibt Böhme – „wird die Form eines Dinges als etwas Abgrenzendes und Einschließendes gedacht, nämlich dasjenige, was das Volumen des Dinges nach innen einschließt und nach außen abgrenzt. Die Form eines Dinges wirkt aber auch nach außen. Sie strahlt gewissermaßen in die Umgebung hinein, nimmt dem Raum um das Ding seine Homogenität, erfüllt ihn mit Spannung und Bewegungssuggestionen. Es wurde in der klassischen Dingontologie als die Eigenschaft des Dinges gedacht, ein bestimmtes Raumstück einzunehmen, sozusagen zu okkupieren und dem Eindringen anderer Dinge in diesem Raum Widerstand entgegenzusetzen. Die Ausdehnung eines Dinges und sein Volumen sind aber auch nach außen hin spürbar, geben dem Raum seiner Anwesenheit Gewicht und Orientierung. Volumen, gedacht als Voluminizität eines Dinges, ist die Mächtigkeit seiner Anwesenheit im Raum.“ 1)
Im Unterschied zu unserer geläufigen Vorstellung des Steins, der hier als exemplarisches Ding stehen mag, als ein in sich abgeschlossenes Objekt, das sich durch seine Abgrenzung nach außen und seinen besonders starken Widerstand gegen Eingriffe von außen definiert, zeichnen sich die Steinskulpturen von Meyer durch eine artikulierte Form der Offenheit aus. Sie vermitteln zumeist den Eindruck ihrer unabgeschlossenen Ausschnitthaftigkeit und ihrer Tendenz, sich wie das Wasser oder die Luft oder das Licht in den umgebenden Raum zu verströmen. Durch diese dem Steinernen widersprechenden Qualitäten werden die behauenen Steine in Dinge transformiert, die ihre Abgrenzung und Verschlossenheit gegen den Umraum aufgeben und damit Züge der von Böhme als Alternative zur klassischen Dingauffassung angeführten atmosphärischen Dinge annehmen.
Hierzu zitiere ich noch einmal den Philosophen, dessen Ausführungen zur atmosphärischen Dingauffassung sich wie ein direkter Kommentar zu den dinghaft-undinglichen Skulpturen von Heinrich Meyer lesen: „Selbst im engeren Bereich der Kunst, etwa der bildenden Kunst, wird deutlich, dass es dem Künstler genau genommen nicht darum geht, einem Ding, sei es einem Marmorblock oder einer Leinwand, bestimmte Eigenschaften zu geben – soundso geformt oder farbig zu sein –, sondern es in bestimmter Weise aus sich heraustreten zu lassen und dadurch die Anwesenheit von etwas spürbar werden zu lassen. …Atmosphäre bezeichnet zugleich den Grundbegriff einer neuen Ästhetik, wie auch ihren zentralen Erkenntnisgegenstand.
Die Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen“ 2) und weder eine dem Ding alleine anhaftende Eigenschaft noch ein nur dem subjektiven Empfinden des Betrachters zukommende Qualität.
Nicht nur Meyers „Atmosphäre“ genannte Marmorskulptur von 2006, sondern nahezu alle seine seitdem entstandenen Skulpturen sind von ihm nicht mehr durch ihre Unterscheidung gegen andere Dinge im Raum und durch ihre Abgrenzung gegen diesen Raum definiert, sondern durch die Art und Weise, wie sie aus sich heraustreten in den Raum, und diesen hierdurch als einen atmosphärischen Raum prägen, der sich den in ihm befindlichen Menschen spürbar mitteilt – als eine Atmosphäre mit bestimmten Empfindungs-qualitäten, die wir ästhetische nennen. In diesem Sinne können wir bei diesen Skulpturen von atmosphärischen Dingen sprechen, die am Anfang einer neuen Ästhetik stehen. Solche Atmosphären verkörpert der Rohling, der unter der Hand des Bildhauers zum Meer, der Stein, der zur Luft geworden ist.
Anmerkungen
1) Gernot Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, edition suhrkamp, Berlin 2013, S. 33
2) ebd. S. 34
Weiter zu Prozess und Atmosphäre, eine Einführung von Arie Hartog, Direktor Gerhard-Marcks-Haus, Bremen
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