Prozess und Atmosphäre

Zum Werk von Heinrich Meyer – eine Einführung von Arie Hartog, Direktor Gerhard-Marcks-Haus, Bremen

Heinrich Meyer ist ein Bildhauer, der die im Naturstein vorhandene Zeichnung mit plastischen Motiven verbindet und dann – und da wird aus einer relativ großen Gruppe von Künstlern eine sehr kleine – scheinbar realistische Bilder von Landschaft im weitesten Sinne herausarbeitet. Aus dieser Verbindung lässt sich die besondere Wirkung seiner Steine erklären: Sie potenzieren das „sowohl-als-auch“ der Bildhauerei, immer Material und Bild gleichzeitig zu sein. Dazu zwei Gedanken:

I

Dass sich in einem Stein Muster verbergen, ist nicht neu. Menschen haben die Adern, Linien und Bruchkanten in den Natursteinen, die sie umgaben, immer schon gesehen und wahrscheinlich auch gedeutet. Bildhauer arbeiteten mit diesen Spuren im Material und in der neueren europäischen Tradition haben sie vor allem dagegen angearbeitet. Das Ideal war ein möglichst sauberer (weißer) Stein, dem ein Künstler seine Idee aufzwang. Die darin enthaltene Zeichnung wurde zur Fehlstelle, durchkreuzte sie doch allzu oft das Konzept. Wiederentdeckt (oder besser neubewertet) wurde, was bis dahin noch als Mangel galt, von nordeuropäischen Bildhauern, die das Material mit ihrer Landschaft verbanden, und ihren modernen abstrakten Kollegen, auf der Suche nach Belebung ihrer gegenstandslosen Kunst. Der Werkstoff mit all seinen Eigenschaften emanzipierte sich. 

Diese Emanzipation ist ein zentraler Aspekt der Geschichte der modernen Bildhauerei und um sie zu beschreiben, lohnt es sich, an Aristoteles’ Gedanken der vier Ursachen zu erinnern, die der griechische Philosoph am Beispiel einer Silberschale verdeutlichte. Das ist erstens „hyle“, der Stoff aus dem man den Gegenstand schaffen kann, zweitens „eidos“, die Form der Schale, drittens „telos“, das Ziel, wozu sie dient, und viertens der „arche tes kineseos“, der Macher, dessen Überlegungen am Anfang der Schale stehen und dessen Fähigkeiten den Werdegang begleiten. Wer über von Menschen gemachte Gegenstände so denkt, versteht, dass alle vier Aspekte verzahnt sind und nur aus dem Zusammenspiel diese eine Schale entstehen kann. Jedes einzelne Objekt ist also anders, weil es immer Verschiebungen im Gleichgewicht der vier Prinzipien gibt. Der neuzeitliche Kunstbegriff hat dagegen die ersten drei Ursachen zurückgedrängt und betont die vierte. Als Stoff, Form und Funktion tauchen die drei im Sprachgebrauch auf, aber sie werden meistens dem zielorientierten Handeln des Künstlers untergeordnet. Die Geschichte der modernen Bildhauerei lässt sich auch beschreiben als eine Wiederentdeckung der Wechselbeziehung zwischen allen vier Faktoren.

Zurück zum weißen Stein. Hochgeschätzt wurde er, weil darin die Idee des Künstlers in sauberster Form darstellbar sei. Es galt effiziente Methoden zu finden, diese Idee zu übertragen. Die alte Herangehensweise, bei dem im Prozess der vier Ursachen ein Gegenstand geschaffen wird, wurde dagegen als „Handwerk“ abgewertet. Es ist daher selbstverständlich, dass der offene Prozess der Skulptur, der so typisch für die moderne Bildhauerei ist, mit einer Aufwertung der handwerklichen Arbeit einherging. Die heutige Rückkehr zur akademischen Konvention, mit ihrer Betonung von Idee und Konzept, neigt dagegen dazu, alle Prozesse zu negieren und die Herstellung eines vorher festgelegten Resultats outzusourcen. So betrachtet ist das Werk von Heinrich Meyer tief in der Tradition der modernen Bildhauerei verankert, in der ein Werk in einem Prozess entsteht. Es gilt nicht seine handwerkliche Arbeit zu bewerten, sondern zu verstehen, dass sie in diesem konkreten Zusammenhang durch die Auseinandersetzung mit einem individuellen Stein zu diesem Werk führt. Damit – und das ist der eigentliche Gewinn der Denkfigur der alten Griechen – wird die Wahrnehmung reichhaltiger. 

II

In der angesprochenen vertieften Wahrnehmung der Arbeiten von Meyer löst sich die Trennung von Material und Bild auf. Wahrscheinlich hat das auch damit zu tun, dass beide auf Natur verweisen und das geschaffene Bild (etwa des Wassers) zwar deutlich präsent ist, sich aber nie in den Vordergrund drängt. Diese Werke erwecken immer den Eindruck, als würde sich das gesehene Bild aus der Logik des Materials ergeben. Ein Betrachter seiner Steine wird an die berühmte Kippfigur erinnert, die sowohl Hase wie Ente sein kann, und merkt, wie sich Werkstoff und Darstellung überlagern und durchdringen, als wäre es Meyer gelungen, den Kipppunkt vielleicht nicht auszuschalten, aber dann doch seine Auslösung zu verzögern. 

Möglicherweise hat diese besondere Einheit des Kunstwerks bei den Steinen von Heinrich Meyer mit der Atmosphäre zu tun, ein Aspekt, der in der Bildhauerei traditionell keine große Rolle spielt. Über das Motiv „Landschaft“ im weitesten Sinne bringt der Bildhauer sie aber in seine Kunst. Für diese Atmosphäre sind Farbigkeit, Kristallstruktur und Dichte des Steins bestimmend. Sie durchdringt die geschaffenen Bilder und schenkt ihnen eine leichte Melancholie.  

Die Kunst von Heinrich Meyer handelt von dem einen Stein, in dem sich ein Bild verbarg, das der Bildhauer in einem Prozess daraus zum Vorschein brachte. Gemeinsam zielen all diese Aspekte daraufhin, wahrgenommen zu werden, womit auch der „telos“ präsent wäre. 

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